Welches produzierende Unternehmen beschäftigt sich derzeit nicht mit der Digitalisierung von Fertigung und Logistik? Selbst KMU sind sich darüber im Klaren, dass sie in „Industrial Intelligence“ investieren müssen, um die datenbasierte Integration der Wertschöpfungsprozesse voranzutreiben und wettbewerbsfähig zu bleiben. Allerdings wissen viele Mittelständler nicht so recht, wo sie anfangen sollen. Vor allem in der Fertigung ist KI mit einem Paradigmenwechsel verbunden, der seinen Ausdruck nicht zuletzt in der Auflösung etablierter Produktionshierarchien findet.
ETABLIERTE PRODUKTIONSHIERARCHIEN LÖSEN SICH AUF
1. Dezentrale Selbstorganisation löst zentrale Steuerungsmechanismen ab.
2. Auf Basis übergeordneter Prozessdaten werden Produkte „smart“.
3. Die Bedeutung und Qualität der Mensch-Maschine- Kommunikation nimmt zu.
4. Die ressourcen- und energieschonende Fertigung nimmt einen höheren Stellenwert ein.
Das Internet der Dinge (IoT) ermöglicht die „Smart Factory“ mit ihrem Netzwerk intelligenter Objekte und Methoden; innovative Informations- und Kommunikations-Technologien unterstützen Mitarbeiter beim Erlernen neuer, komplexer Arbeitsschritte auf dem Shopfloor.
Als Beratungsunternehmen hat sich Ingenics seit Jahren mit dem Thema Industrie 4.0 auseinandergesetzt und seine Umsetzung aktiv vorangetrieben. Der Begriff KI spielte allerdings kaum eine Rolle, als man vor fünf Jahren begann, die Innovationsfelder für die kommenden Jahre festzulegen: Automatisierung, Mensch-Roboter-Kollaboration (MRK), neue Formen der Arbeitsorganisation, Big Data, Business Intelligence, additive Fertigung und Flexibilisierung. Spätestens, als in einem wissenschaftlich begleiteten Kundenprojekt eine neue Motorenmontage entwickelt werden sollte, wurde deutlich, dass das hoch gesteckte Ziel nicht mit herkömmlichen Ideen und Prozessen zu erreichen sein würde. „Bei der Entwicklung der Schwarmmontage nutzten wir erstmals KI, um extrem komplexe Aufgaben zu bewältigen, die das menschliche Gehirn ohne Unterstützung durch Algorithmen nicht mehr leisten kann“, erklärt Ingenics CEO Prof. Oliver Herkommer. Die Erkenntnis war, dass die klassische Linienfertigung nicht flexibel genug war, um die immer größer werdende Varianz bei immer kleiner werdenden Stückzahlen noch zufriedenstellend abzubilden. „Wenn die Taktverluste so groß werden, dass ich entweder bestimmte Produkte rausnehmen oder große Stillstandszeiten bzw. sogenannte Austaktungsverluste in Kauf nehmen muss, ist es vernünftiger, die Fließfertigung abschnittsweise aufzulösen und erst in Segmenten mit geringerer Varianz wieder zusammenzuführen.“ Im Austausch mit Kunden und Fachexperten wurde festgestellt, dass das Zusammenspiel von Materialien, Werkzeugen, Qualifikationen und Informationen so komplex wird, dass es zur Steuerung komplexer Algorithmen bedarf.
Inzwischen sei branchenübergreifend ein Punkt erreicht, an dem es sich kein Unternehmen mehr erlauben könne, die Herausforderungen der Digitalisierung zu ignorieren. Für Ingenics ist es ein extrem spannendes Querschnittsthema, für das wir erfahrene Kollegen, die bereits ein umfangreiches Wissen über Cockpits, ERP-Implementierungen etc. mitbringen, zusätzlich qualifizieren. Für ergänzendes Know-how und flexible Unterstützung hat Ingenics Kooperationen mit spezialisierten Softwareanbietern und Systemhäusern aufgebaut.
Die zwei Stufen der „KI-Werdung“
Im ersten Schritt geht es um den Einsatz und die Nutzung kognitiver Fähigkeiten – z. B. Kameras in der Produktion, um Qualitätsmerkmale zu überwachen, aktuelle Wahrnehmungen mit vorhandenen Daten abzugleichen und mit vergleichsweise einfachen Maßnahmen optimierend in den Prozess einzugreifen. Derlei kognitive Anwendungen sind relativ schnell und einfach zu bewerkstelligen.
Etwas Anderes ist es dann, tatsächlich selbstlernende Systeme in einen Fertigungsprozess zu implementieren und in ein übergeordnetes Steuerungsprogramm einzubinden. In der Produktion sprechen wir meist erst dann von KI, wenn wir über die transparenten Echtzeitsteuerungssysteme hinausgehen und z. B. damit beginnen, über Empfehlungen, die auf der Erfahrung von Algorithmen basieren, die Entscheidungsqualität des betrieblichen Managements zu verbessern. Ob der Mensch den Algorithmus noch verstehen kann, ist die eine Frage; ob er frei darüber entscheidet, sich an ihm zu orientieren, die andere.
Wenn Maschinen eine Lernfähigkeit bekommen oder entwickeln, die sich zwar im Rahmen der Vorgaben ihrer Nutzer bewegt, deren Rechenoperationen der Mensch aber nicht mehr nachvollziehen kann, überfordert dieses Selbstoptimierungspotenzial unser Denkvermögen. Und je größer die Freiheit ist, die wir Automaten zugestehen, desto mehr zusätzliche Daten werden generiert. Deren Analyse bietet wiederum Gelegenheit zur weiteren Verbesserung der KI. Neuronale Netze potenzieren mit jedem Prozessschritt (oder Greifvorgang bei Robotern) ihren Erfahrungsschatz. In der Robotik hat diese Dynamik vielfach Einzug in die Fabriken gehalten, sodass von Generation zu Generation die kognitive Potenz der Automaten dynamisch wächst. Die Befürchtung, sie könnten den „Kollegen Mensch“ zumindest aus dem Shopfloor verdrängen, mutet zunehmend weniger fantastisch an. „Wir werden uns mit solchen Szenarien beschäftigen und darüber entscheiden müssen, wie viel Raum wir der KI einräumen wollen“, so Prof. Herkommer. „Wir beobachten die Entwicklungen gerade in den Bereichen sehr aufmerksam, in denen autonome KI die Wertigkeit von menschlicher Arbeit beeinträchtigen könnte, falls Mitarbeiter nur noch Anweisungen von Maschinen ausführen würden.“
Akzeptanz von Kontrollverlusten wirft Grundfragen einer Maschinenethik auf
Eine eigenständige KI würde in der Tat voraussetzen, dass der Mensch darauf verzichtete, ihre Weiterentwicklung zu kontrollieren. Er würde damit das Risiko eingehen, einer Entwicklung, die er selbst initiiert hat, nicht mehr folgen zu können und im äußersten Fall als „Zwischenschritt der Evolution“ auf der Strecke zu bleiben. Unser teilweise skeptischer Umgang mit der KI hat sicher damit zu tun, dass die fantastische Literatur vieles von dem vorweggenommen hat, was heute möglich ist. Um die Vorzüge der KI ausschöpfen zu können, ohne ihre möglichen Nachteile in Kauf nehmen zu müssen, werden die Industriegesellschaften des 21. Jahrhunderts kooperativ Regeln und Restriktionen beschließen müssen.
Was Unternehmen und Institutionen – zum allgemeinen Wohl und in ihrem wirtschaftlichen Interesse – erlaubt ist, wird wirksam abzugrenzen sein. Auch um gefährlichen gesellschaftlichen Entwicklungen zu wehren, z. B. bei der automatisierten Beurteilung der individuellen Bonität bei Kreditkonditionen, die für Betroffene nicht mehr nachvollziehbar sind. Die Akzeptanz von Kontrollverlusten ist höchst riskant und wirft Grundfragen einer neuen „Maschinenethik“ auf. Für Produktion und Logistik haben wir im Zusammenhang mit dem maschinellen Lernen, der Mensch-Maschine-Interaktion oder der intelligenten Maschinenwartung keine Mühe, uns einen von allen Seiten akzeptierten Nutzen der KI vorzustellen, zumal, wenn er mit positiven Effekten für die Wertschöpfung verbunden ist. Auch in Bereichen wie der Verkehrslenkung und in Systemen zur Kollisionsvermeidung im Straßenverkehr werden sich intelligente Technologien als nützlich erweisen.
In der Fertigung verbessert sich die Arbeitsqualität für den Menschen
Lösungen wie die zuvor erwähnte Schwarmmontage agieren an der Schwelle von der kontrollierten Nutzung kognitiver Systeme zum selbstlernenden System. Dennoch behält der Mensch die Kontrolle, da die Methode auf eine ganz bestimmte, abgrenzbare Anwendung beschränkt bleibt. „Die mit Kameras ausgerüsteten fahrerlosen Transportsysteme (FTS), die Wegblockaden feststellen und selbstständig alternative Routen wählen, können ihren Weg lokal im Schwarmsystem optimieren, ohne dass sich ein übergeordnetes Steuerungssystem damit beschäftigen muss“, so Prof. Herkommer. „Wenn die FTS anfangen zu lernen, kann das System nach einer bestimmten Menge von Erfahrungen extrapolieren und die Produktivität auf eine Weise verbessern, die wir nicht mehr nachvollziehen können.“ Eine derartige KI-Anwendung könne den Menschen in der Fabrik aber nicht überflüssig machen.
„Hier wird vielmehr die Arbeitsqualität für den Menschen an den Fertigungsinseln verbessert, was im Wettbewerb um knappe Fachkräfte auch ein gutes Argument sein kann.“ In Prozessen, in denen Maschinen dem Menschen deutlich überlegen sind wie z. B. beim Materialtransport, werden sie den Menschen jedoch ersetzen. Überall wo es darum geht, proaktiv Qualität zu erkennen und in die Initiierung höherwertiger Lösungen umzusetzen, wird der Mensch aber auch auf lange Sicht nicht verzichtbar sein.
„Von einer gesamtheitlichen Fabrikstrategie auf der Basis von KI sind wir noch weit entfernt“, so Prof. Herkommer. „Heutige Produktionsplanungssysteme funktionieren mit relativ einfachen Berechnungsalgorithmen, die der Mensch definiert und abgeleitet hat und noch durchdringen kann. Wenn wir auf die nächst höhere Ebene gehen, können wir die Zusammenhänge nicht mehr ableiten, da wäre dann der Punkt erreicht, an dem Maschinen mithilfe von nicht mehr durchschaubaren Optimierungsalgorithmen andere Maschinen weiterentwickeln.“
Wenn Europa seine Zukunft nicht in die Hand nimmt, werden es andere tun
Ingenics engagiert sich seit vielen Jahren in China und hat dort z. B. als „Begleiter“ deutscher Unternehmen mehrere Autofabriken geplant. Trotzdem unterstützt das Beratungsunternehmen jedes europäische Bemühen, beim Thema KI den Anschluss nicht zu verpassen.
Interessant ist hier vor allem das Forschungsbündnis CLAIRE (Confederation of Laboratories for Artificial Intelligence Research in Europe), das 600 europäische Experten als Reaktion auf öffentliche und private Investitionen in KI-Technologie in den USA und China 2018 gegründet haben. CLAIRE will einerseits verhindern, dass weitere Experten und Fachkräfte Europa verlassen und andererseits darauf achten, dass Werte wie Verantwortung, Fairness, Aufrichtigkeit und Privatsphäre nicht aus dem Blickfeld geraten. „Wenn Europa seine Zukunft nicht selbst gestaltet, wird es jemand anderes für uns tun“, lautet der gedankliche Ausgangspunkt der Initiative.
Auch die vom deutschen Wirtschaftsministerium initiierte Strategie für die Entwicklung und Anwendung einer „KI made in Germany“ soll dazu beitragen, eine deutsche bzw. europäische KI zu etablieren, da Produktivität und Wettbewerbsfähigkeit der Zukunft von KI-Kompetenz und -Verfügbarkeit abhängen. Das Deutsche Forschungszentrum für KI (DFKI) beteiligt sich an der Entwicklung eines Systems, das kritische Handlungen und Maschinenfehler in der Produktionslinie frühzeitig erkennt. Sie verwenden dazu Daten aus mobil am Körper getragenen Sensoren, Eyetracking-Brillen und Armband-Sensoren – sogenannten Wearables.

China wurde viel zu lange unterschätzt
Ob derlei Initiativen genügen werden, um mit China Schritt zu halten, wird sich schon bald zeigen. Was die Innovationsgeschwindigkeit bei der KI angeht, wurde China viel zu lange unterschätzt. Die Chinesen sind ebenso pragmatisch wie innovativ und Datenschutzüberlegungen spielen oft eine geringe Rolle. So werden KI-Technologien schnell vorangetrieben, die große Bevölkerungszahl und die Begeisterung für das Internet sorgen für eine gigantische Datenbasis: Ende 2018 gab es in China deutlich über 800 Millionen Internet-Nutzer (USA 300 Millionen, Deutschland 62 Millionen) und die politische Führung ist fest entschlossen, das Land bis 2030 zur führenden KI-Weltmacht zu machen. Beim Thema Smart City liegt das Land heute schon vorne.
Wenn man sich anschaut, wie eine Stadt wie Shenzhen gesteuert und die Verkehrsflüsse gelenkt werden, muss man zugeben, dass sie uns fünf bis zehn Jahre voraus sind. Ohne einen zügigen Ausbau des Breitband- Netzes wird der Abstand schnell noch größer; 5G-Technologie ist auch eine Voraussetzung dafür, dass Informationen zentral in der Cloud verarbeitet werden können.
Unbestritten steht und fällt der Erfolg eines KI-Projektes mit der Generierung, Bewertung und Verarbeitung von Daten und Bildern – was in der erforderlichen Präzision und Geschwindigkeit nur im Zusammenhang mit Cloud-Technologie möglich ist. Eine Voraussetzung von KI ist die Fähigkeit, schnell große Rechenleistung bereitzustellen und riesige Datenmengen zu verarbeiten. Nur die Cloud-Technologie bietet intelligenten Systemen die Möglichkeit, in erforderlichem Umfang selbstständig Zusammenhänge zu erkennen und kontextorientierte Rückschlüsse zu ziehen. Dann können in Echtzeit mit Informationen direkt aus der Fertigung zuverlässige Prognosen oder Informationen über die weiteren Prozessschritte abgerufen werden. Während viele große Unternehmen in der Lage sein sollten, Versäumnisse zügig aufzuholen und Lücken zu schließen, steht der Mittelstand vor einer besonders großen Herausforderung. „Wir befürchten, dass wir eine Entwicklung der zwei Geschwindigkeiten haben werden“, sagt Prof. Herkommer. „Mittelständler können nicht ohne Weiteres teure Systeme implementieren und haben in der Regel auch nicht die erforderliche IT-Fachkompetenz im Haus. Deshalb sind gerade sie es, für die staatliche Förderprogramme aufgelegt werden sollten und denen Ingenics maßgeschneiderte Lösungen anbieten muss.“